STEFANIE KÖSTER

STEFANIE KÖSTER – GRÜNDERIN UND LEITERIN

Stefanie

Stefanie Köster (Jahrgang 1974) gründete das Nikolaushaus im September 2011 und leitete es hauptamtlich bis Oktober 2020. Sie ist Sozialpädagogin und stammt aus Essen (NRW). Mehr als 20 Jahre lebte und arbeitete sie in Tansania. Auch heute ist sie dem Nikolaushaus eng verbunden und besucht die Kinder und das Nikolaushaus-Team vor Ort regelmässig. Foto Stefanie Köster

Die katholische Kirche vor Ort unterstützte Stefanie Köster bei der Gründung  des Nikolaushauses, genauso wie verschiedene Vereine in Deutschland und internationale Förderer.

„Ich bin zugleich deutscher und afrikanischer geworden.“ Stefanie Köster, Leiterin des Nikolaushaus

Interview: Martina Fromme, 2016

Das Nikolaushaus gibt es jetzt seit genau fünf Jahren. Weißt du noch, wann du zum ersten Mal mit dem Gedanken gespielt hast, ein Kinderheim zu gründen? Darüber nachgedacht, wie ich afrikanischen Kindern helfen kann, die als Waisen oder in sehr schwierigen Familienverhältnissen aufwachsen und häufig mit schweren Behinderungen leben müssen, habe ich in der Tat schon lange vor der Gründung des Nikolaushauses. Einige der heutigen Nikolauskinder, zum Beispiel Maria, kannte ich ja bereits aus der Kinderambulanz der Franziskanergemeinde, in deren Missionsstation ich gelebt und gearbeitet habe. Es gab zwar auch damals schon einige Heime und Tagesstätten für Kinder mit Behinderungen, aber diese waren in der Regel nicht auf schwer-mehrfachbehinderte Kinder ausgerichtet. Letztere sind dann oft einfach im Krankenhaus aufgewachsen.

Wann hast du den Entschluss gefasst, deine Idee in die Tat umzusetzen? Nachdem ich Maria 2005 aus ihrer Familie rausgenommen und bei einer Pflegemutter untergebracht hatte, war mir klar, dass dies nur eine Übergangslösung sein konnte. In den folgenden Jahren sind dann einige Dinge in meinem Leben passiert, die mich sehr zum Nachdenken gebracht haben. Nach dem Tod meiner Mutter bin ich 2008 aus dem Orden ausgetreten und erst einmal nach Deutschland zurückgekehrt. Dort hat mein Plan, verwaisten und vernachlässigten Kindern ein neues Zuhause zu schaffen, mehr und mehr Gestalt angenommen. Als Namensgeber – das stand schnell fest – sollte der heilige Nikolaus dienen, der Schutzpatron der Kinder. Mit dem Namen und einer etwas konkreteren Idee im Gepäck habe ich schließlich Kontakt zum Verein Lebenshilfe für Afrika aufgenommen, der mich sehr unterstützt und mir ermöglicht hat, erste Spendengelder für mein Projekt zu sammeln.

Was war beim Bau des Nikolaushauses die größte  Herausforderung für dich? Der Bau selbst war im Nachhinein betrachtet das geringste Problem. Um nicht an der Finanzierung zu scheitern, hatte ich mir bewusst vorgenommen, in Baumodulweise klein anzufangen und notfalls auch nur in einen Teil des geplanten Gebäudes einzuziehen. Glücklicherweise reichte das Geld dann doch für den gesamten Bau. Hilfreich war auch, dass ich bereits viele Handwerker kannte und Erfahrungen mit Bauen in Afrika hatte. An meine Grenzen gestoßen bin ich jedoch – all meiner Afrikaerfahrung zum Trotz – beim Spagat zwischen meinen deutschen Vorstellungen bezüglich Erziehung, Arbeitsmoral und Mitarbeiterführung und den tansanischen Gepflogenheiten. Schwierig war es auch, überhaupt geeignetes Personal für das Nikolaushaus zu finden. Es gab einfach keine ausgebildeten Fachkräfte wie sie in Deutschland verfügbar sind. Viele Menschen in Tansania verfügen nur über eine geringe Grundschulbildung. Eine Ausbildung als Erzieherin oder Heilerziehungspflegerin – wie wir das aus Deutschland kennen – gibt es in Tansania nicht. Das heißt, wir können nicht auf pädagogische Fachkräfte zurückgreifen. Anfangs wirklich eine große Hürde, die wir inzwischen aber ganz gut gemeistert haben: mit entsprechenden Schulungen und wachsender Berufserfahrung. Aktuell bin ich jedenfalls sehr zufrieden und kann mit Stolz sagen, dass meine Mitarbeiterinnen Gold wert sind.

Erinnerst du dich noch an die ersten Tage nach eurem Einzug? Natürlich. Die ersten Wochen im Nikolaushaus waren vor allem eins: unheimlich anstrengend. Eingezogen bin ich damals mit zehn Kindern, von denen vier bereits zuvor bei mir gewohnt hatten. Die anderen sechs kamen aus dem Krankenhaus dazu. Sich in ihrem neuen Zuhause einzugewöhnen, ist den meisten recht schwer gefallen. Es gab einfach noch keinen Rhythmus, die Abläufe waren noch nicht klar geregelt, die Mitarbeiterinnen neu und unerfahren – ich war also rund um die Uhr gefordert. Da haben mir die Arbeitserfahrungen, die ich in Deutschland im Kinderheim und in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sammeln konnte, sehr geholfen.

Gab es da auch mal Momente des Zweifels?Die gab es natürlich. Aber diese Gedanken gingen nie so weit, dass ich gedacht habe, ich werfe das Handtuch hin. Ich bin ein sehr optimistischer Mensch und hab stets fest an die Sache und ihre Bedeutung geglaubt. Irgendwann hat sich der Tagesrhythmus dann auch gefestigt und wir sind mehr und mehr als Familie zusammengewachsen. Inzwischen sind wir ein eingespieltes Team und es ist auch kein Problem mehr, wenn ich mal weg bin.

Wie sieht denn ein typischer Tag der „Familie Nikolaus“ aus? Der Tag beginnt früh, in der Regel um 6 Uhr mit dem Wecken der Kinder. Parallel wird in der Küche das Frühstück zubereitet: jeden Morgen 60 Toasts mit Marmelade und Erdnussbutter und dazu Milch und Tee. Um 6.15 Uhr treffen sich dann alle zum Frühstücken. Bereits eine halbe Stunde später geht’s für die größeren Kinder zur  Schule bzw. Vorschule. Inklusiver der Ordensschwestern, die ich zur Kirche fahre, sitzen hinter mir im Bus dann etwa 20 Personen. Zuhause bleiben nur die ganz Kleinen und unsere schwerstbehinderten Kinder. Nach dem Gottesdienst fahre ich dann zurück und erledige die Büroarbeit. Montags halte ich vorher beim Wochenmarkt, wo ich die meisten Einkäufe erledige. Dienstags mache ich meist noch Besorgungen in der Stadt, wo es auch eine Bank und eine Postfiliale gibt. Der Rest des Tages ist reserviert für Gespräche im Team bzw. mit einzelnen Mitarbeitern und Organisatorisches wie die Erstellung von Dienstplänen oder Gehaltsabrechnungen. Hinzu kommen Arztbesuche und Krankenfahrten und natürlich die E-Mail-Korrespondenz mit unserem Förderverein und anderen Unterstützern aus Deutschland.

Hast du auch mal Feierabend? Ich habe ein eigenes Haus in circa 3 km Entfernung. Dort bin ich aber eigentlich nur an drei Abenden pro Woche, die anderen Nächte schlafe ich im Nikolaushaus. Das ist mir auch wichtig, um in Kontakt mit den Kindern zu bleiben. Die Großen verbringen ja fast den ganzen Tag in der Schule und ich freue mich immer darauf, sie abends zu sehen. Da fühle ich mich schon als Mutter – auch wenn ich das offiziell ja nur für Anita und Aisha bin. Viele nennen mich auch „Mama“, aber das ist ganz unterschiedlich. Es gibt auch Kinder, die eine sehr enge Bindung zu anderen Mitarbeitern haben oder in regelmäßigem Kontakt zu ihren leiblichen Eltern stehen. Ein Highlight ist für alle natürlich das Wochenende. In der Regel nehme ich Samstagabends immer ein paar Kinder mit zu mir nach Hause. Auf diese Weise kann ich mich auch mal intensiver um eine kleinere Gruppe kümmern.

Du hast in den letzten fünf Jahren nicht nur ein Haus, sondern auch einen Brunnen gebaut, einen Bus erworben und auch den dazugehörigen Führerschein. Was siehst du selbst als deine größte Errungenschaft? Das sind in der Tat alles tolle Dinge. Als besondere Errungenschaft empfinde ich aber eher die Tatsache, dass der Laden jetzt läuft. Dass wir alle den Übergang in einen relativ reibungslosen Familienalltag hinbekommen haben. Besonders wichtig ist mir natürlich auch, dass es den Kindern gut geht – emotional und körperlich. Letzteres ist ja leider ein zentrales Thema. Viele der Nikolauskinder haben schwere Erkrankungen oder Behinderungen und sind auf Medikamente und medizinische Versorgung angewiesen. Das ist und bleibt ein zäher Kampf und mein Vertrauen in die Krankenversorgung hierzulande ist äußerst begrenzt. Dazu kenne ich einfach zu viele Negativbeispiele.

Wenn du zum 5. Geburtstag des Nikolaushauses einen Wunsch frei hättest, wie würde der lauten? Toll wäre definitiv noch mehr Unterstützung – idealerweise in Form einer Assistenz, die auch meine Stellvertretung übernehmen könnte. Die Urlaubszeit im Sommer, wenn ich mit meinen Töchtern nach Deutschland reise, kann ich inzwischen ganz gut so überbrücken. Aber jemanden zu finden, der mir dauerhaft assistiert, ist schwierig. Die Idee habe ich schon lange im Hinterkopf, aber da muss einfach Vieles passen: eine gute Ausbildung allein reicht nicht, es muss auch eine Person sein, die weiß, worauf sie sich einlässt, die nötige Erfahrung mitbringt und natürlich mit ganzem Herz und viel Leidenschaft dabei ist.

Hast du manchmal Sehnsucht nach Deutschland und worauf freust du dich, wenn du im Sommer zurückkehrst? Es ist schon immer schön, zurückzukehren und Menschen aus meinem eigenen Kulturkreis zu treffen. Freunde auf Augenhöhe, mit denen ich reden und etwas unternehmen kann. In Afrika habe ich eigentlich kein Sozialleben, dort bin ich im Grunde immer die Mama und rund um die Uhr eingespannt. In Deutschland bin ich unter Gleichgesinnten, kann entspannen. Außerdem freue ich mich immer sehr auf deutsches Essen. Die Vielfalt hier. Da kann Tansania leider nicht mithalten.

Würdest du Tansania denn inzwischen als deine Heimat bezeichnen? Ich würde sagen, dass ich in den letzten Jahren zugleich deutscher und afrikanischer geworden bin. Ich fühle mich in beiden Ländern sehr wohl. Das Muttersein fällt mir in Deutschland allerdings manchmal schwer. Ich bin ja in Tansania Mutter geworden und der Umgang mit Kindern unterscheidet sich einfach sehr von dem in Deutschland. Wenn ich im Sommer mit meinen Töchtern nach Deutschland reise, bin ich schon etwas verunsichert, ob ich alles so richtig mache. Aber unser Leben ist einfach nicht mit dem vieler deutscher Familien vergleichbar. Für unsere Praktikanten ist das Leben hier meist auch ein ganz schöner Kulturschock. Aber das kann man niemandem ersparen. Tansania hat ja auch viele gute Seiten: Eine wunderbare Landschaft. Tolles Wetter. Und bei allen Problemen ist es im Gegensatz zu vielen anderen afrikanischen Ländern friedlich. Es gibt und gab noch keine Bürgerkriege. Die Menschen sind sehr direkt – für deutsche Ohren wirkt das fast schon beleidigend. Gleichzeitig ist man sehr friedfertig und höflicher als in Deutschland, zum Beispiel was das Grüßen und Danke-Sagen angeht. Da könnte sich manch Deutscher noch eine Scheibe abschneiden.

Du hast schon gesagt, dass die Krankenhäuser größtenteils eine Katastrophe sind. Gibt es noch andere Dinge, die dich ärgern? Grundsätzlich ärgert mich, dass sich an vielen Dingen einfach nichts ändert. Ich sehe ja im Nikolaushaus, dass es funktionieren kann, wenn man die Menschen ernst nimmt, ihnen vertraut, aber auch ganz klar sagt, was man von ihnen erwartet und wo die Grenzen sind. Es hat einige Zeit gedauert, aber inzwischen sind Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Engagement für meine Mitarbeiter keine Fremdwörter mehr. In Schulen und Krankenhäusern sieht das leider oft anders aus. Da gibt es immer noch viele Missstände, Lehrer, die Kinder schlagen und Ähnliches.

Was sind deine Pläne für die Zukunft? Sehr gerne würde ich noch ein weiteres Haus für Erwachsene mit Behinderungen eröffnen. Dazu mangelt es mir zurzeit allerdings noch an der nötigen Unterstützung. Die Finanzierung wäre vermutlich irgendwie zu stemmen, aber es ist einfach nicht so leicht, gut ausgebildetes Personal zu finden. Der Wunsch entspringt natürlich auch meiner Sorge um die älteren Kinder wie Maria. Sie ist inzwischen 20 und erst vor kurzem zusammen mit ihrem Bruder Steven in eine Einrichtung für Erwachsene, eine Art „betreutes Wohnen“, umgezogen. Es hat natürlich eine große Abschiedsfeier gegeben, aber die Einrichtung ist mehrere Autostunden entfernt. Es wird also schwer sein, den Kontakt zu den beiden zu halten.

Wie beurteilst du die Perspektiven für die anderen Kinder? Für die nichtbehinderten Kinder wünsche ich mir natürlich, dass sie die Schule gut schaffen und herausfinden, was sie mit ihrem Leben anstellen wollen. Als meine Aufgabe sehe ich es, ihnen ein gutes Fundament mitzugeben, vor allem auch die psychisch-soziale Kompetenz, auf das sie ihr eigenes Leben aufbauen können. Mit den älteren Kindern führe ich daher schon jetzt regelmäßig intensive Gespräche, um gemeinsam über ihre Zukunft zu sprechen und ihnen zu signalisieren, dass die Zeit im Nikolaushaus für jeden von ihnen irgendwann zu Ende geht. Die Grundschulzeit in Tansania dauert sieben Jahre, bei guten Schulleistungen käme danach zum Beispiel ein Internat infrage. Das wäre schon toll, denn eine Sekundarschulausbildung ist in Tansania nicht die Regel. Jedem einzelnen Kind wünsche ich, dass es seinen Weg gehen wird und dass gerade die Kinder mit Behinderungen immer Menschen um sich haben werden, die für sie sorgen.